blauerfalke: (erzählen)
blauerfalke ([personal profile] blauerfalke) wrote2020-04-18 11:53 am
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Sprache und Sein

von Kübra Gümüşay

Ich habe keine Ahnung, wie ich dieses Buch beschreiben soll... Es geht darum, wie Sprache unsere Weltsicht beeinflusst und was das für unsere Gesellschaft bedeutet.


Nehmen wir den Satz "Jemand geht bei Rot über die Straße." und stellen uns das bildlich vor. Die Straße, die Ampel, die Person, die über die Straße geht. Alles schön im Detail. Und jetzt beschreiben wir die Szene genauer. Welches Geschlecht hatte die Person? Welche Hautfarbe? Was also ist der Standard für unsere Vorstellung?

Ich bin ziemlich sicher, dass jemand mit meinem Hintergrund - deutsch, weiblich, weiß, christlich - sich bei dem Satz einen weißen Mann vorgestellt hat, der da bei Rot über die Ampel geht. Vielleicht in Jeans oder einem Anzug, je nach Alter. Eben das, was ich als "nichts Besonderes" beschreiben würde. Das, was man registriert und dann wieder vergisst. Was ich später auch genauso beschreiben würde, wenn ich davon erzähle: "Da ist jemand bei Rot über die Straße gegangen." - woraufhin sich mein Gegenüber wahrscheinlich dasselbe vorstellen würde, denn höchstwahrscheinlich hätte es denselben gesellschaftlichen Hintergrund wie ich.

Um jetzt zu beschreiben, dass ich Frau Gümüşay bei Rot über die Straße habe gehen sehen, müsste ich sagen "Eine muslimische Frau ist bei Rot über die Straße gegangen." - weder muslimisch noch Frau ist der Standard in unserer Gesellschaft, also muss ich das erwähnen, damit mein Gegenüber mich versteht. Das ist an sich nicht verwerflich, aber es birgt Gefahren. Denn z.B. mit der Muslima, die bei Rot über die Straße gegangen ist, sind in den Gedanken sofort alle anderen Muslime der Welt auch bei Rot über die Straße gegangen. Alleine durch die Tatsache, dass "muslimisch" in meinem Satz herausgestellt wurde, obwohl es für den Zusammenhang überhaupt keine Rolle spielt. Unterbewusst bleibt es hängen, dass Muslime sowas tun. Bei Rot über die Straße gehen.

Es ist ein Buch eben über diese kleinen, unbewussten Gefahren, die in unserer Sprache lauern, und mit denen unsere Gesellschaft auf einer Ebene strukturiert wird, die die meisten von uns nicht wahrnehmen, weil uns das Problem eben nicht betrifft. Es ist das gleiche Problem, das Pressemitteilungen wie "Die Nationalität des Straftäters wird nur dann genannt, wenn sie relevant ist." bedingen (sprich, sie wird genannt, wenn er Ausländer ist, weil der Standard Deutsch wäre, aber dadurch wird suggeriert, dass die meisten Straftaten von Ausländern begangen werden, eben weil bei den Deutschen nicht "deutsch" dazu gesagt wird), und die gleiche Struktur, die es mir im Deutschen unmöglich macht, jemandem zu erzählen, dass ich mit meinem Nachbarn im Hausflur gesprochen habe, ohne dass sofort klar ist, ob ich mit der Dame von gegenüber oder dem Herrn von nebenan gesprochen habe.

Ich habe schon mehrere Bücher dieser Art gelesen, denn ich interessiere mich für Sprache und ihren Gebrauch, und das ist sicher das Politischste und aktuell relevanteste davon. Es zeigt Gefahrenquellen, grundlegende Strukturen und sogar unbewusste Verwendung von Sprachen - auch Fremdsprachen - und deren Bedeutung. Es macht auf Dinge aufmerksam, die einem noch nie aufgefallen sind, und es regt zum Nachdenken an. Dabei ist es unterhaltsam geschrieben, ohne anzuklagen, mit einem optimistischen Grundton. Naturgemäß bietet es keine Lösung an, aber es bietet Denkanstöße. Und das ist das Beste, was wir haben. Denn im Grunde sind wir alle Menschen und keiner ist per se besser oder schlechter, egal welche Hautfarbe, welches Geschlecht oder welche Religion. Unsere Taten sind es, die uns unterscheiden.

Sehr empfehlenswert.