Die Deutschen und ihre Mythen
Feb. 6th, 2021 06:58 pm![[personal profile]](https://www.dreamwidth.org/img/silk/identity/user.png)
von Herfried Münkler
Ein Mythos ist etwas, was eine hohe symbolische Bedeutung für eine bestimmte Gruppe hat. Es gibt Schöpfungsmythen, Gründungsmythen, Heldenmythen, Geschichtsmythen und viele andere mehr. Mythen sind wandelbar, interpretationsoffen und mehrdeutig. Sie sorgen für den Unterbau, für die Begeisterung, und sie sind eine Rechtfertigung dafür, dass es etwas ist, wie es ist, oder etwas getan wird, wie es getan wird. Und nicht zuletzt dienen sie der Abgrenzung. Darum kommt Karl der Große in diesem Buch nur am Rande vor: Sowohl Frankreich als auch Deutschland beanspruchen ihn für sich, also ist er kein Mythos der Deutschen. Nicht nur.
Herr Münkler hat sein Buch unterteilt, um die behandelten Mythen nochmals thematisch zusammenzufassen. Nationalmythen, Ein Kampf gegen Rom, Preußische Mythen, Burgen und Städte, und Politische Mythen nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit jedem einzelnen Mythos arbeitet er sich chronologisch vor, zeigt seine Grundlage, seine Entwicklung und seine Bedeutung für die jeweilige Zeit. Denn das kommt auch noch dazu: Im Gegensatz zu vielen unserer Nachbarn haben wir Deutschen keine jahrundertealte ungebrochene Tradition, auf die unser Land zurückblicken kann. Die aktuelle Berliner Republik ist gerade mal etwas über 30 Jahre alt, die Bonner Republik und die DDR haben es auf 40 Jahre gebracht, davor gab es 12 Jahre "Tausendjähriges Reich"... Vor 1871 gab es kein Deutschland in diesem Sinne. Wir haben also über die Zeit sehr viele verschiedene politische Systeme durchlaufen und jedes hat versucht, sich die wichtigsten Mythen zu eigen zu machen und sie zu benutzen. Denn ein Mythos ist auch etwas, was die Leute motiviert. Argumente sind gut, aber Argumente führen nicht zu Begeisterung. Damit lässt sich kein Krieg gewinnen. Oder auch nur eine Revolution.
Ich kannte jeden einzelnen der aufgeführten Mythen, auch wenn ich nicht jeden als Mythos bezeichnet hätte - auch, weil mir die Tragweite vor der Lektüre bei einigen (z.B. Luther, Königin Luise, Faust) nicht bewusst war. Das fällt vor allem bei dem Mythos der Gründung der BRD auf: Es gibt keinen. Die Bundesrepublik Deutschland hat keinen Gründungsmythos. Sie hat keine ideologische Berechtigung (im Gegensatz übrigens zur DDR), und keinen historischen Unterbau. Sie ist das, was nach dem Zweiten Weltkrieg halt aus den drei westlichen Besatzungszonen gemacht wurde. Ein Papierstaat. Was also sind die Mythen, die man mit ihr verbindet? Wirtschaftswunder und D-Mark. Die harte Währung, der stabile Rechtsstaat. Wohlstand. Oder, wie eine britische Doku es mal so schön nannte "the powerhouse of Europe". Deutschland ist der Motor Europas, sein wirtschaftliches Rückgrat, die Stimme der Vernunft. Deutschland hat keine Agenda außer seiner Verfassung. Und wenn ich ganz ehrlich bin, dann finde ich das nicht das Schlechteste - aber ich bin auch in der BRD großgeworden, und das bedingt den Einfluss dieses Identitätsmythos. Wir sind vernünftig. Wir sind friedlich. Und wir sind ein Vorreiter im Umweltschutz. Werte dieser Zeit.
Zu anderen Zeiten waren andere Mythen identitätsstiftend. Bekannte Mythen wie das Nibelungenlied, Barbarrossa oder der deutsche Rhein. Die Weimarer Klassik, preußische Tugenden und der Bombenhagel von Dresden. Nicht zu vergessen die "Germania" von Tacitus, die den Mythos des sittenreinen Barbaren, des edlen Wilden in den dunklen Wäldern, begründet hat. All das ist Teil von Deutschland, auch heute noch, auf die eine oder andere Weise. Und wenn es nur im Rahmen von Vergangenheitsbewältigung ist, denn darin sind wir Deutschen nicht nur Weltmeister sondern konkurrenlos. Die BRD ist das einzige Land, das als Nachfolger eines anderen politischen Systems ernsthaft Schuldarbeit und Wiedergutmachung betrieben hat. Andere Länder arbeiten nicht einmal ihre eigenen Fehler auf.
Herr Münkler schreibt einen anspruchsvollen Stil, so dass ich manchmal Sätze mehrfach lesen musste, um sie zu verstehen, aber nie so schwierig, dass ich ihm nicht folgen konnte (was sicher auch daran liegt, dass Deutsch meine Muttersprache ist, siehe "Albion"). Es ist kein unterhaltendes Buch, aber es ist ein spannendes Buch, das angenehm bei seinem jeweiligen Thema bleibt und sich nie in Randbemerkungen oder weiteren Gedanken verzettelt. Hin und wieder wiederholen sich Dinge, da Mythen logischerweise verknüpft sind, aber das trägt vor allem zur Orientierung bei und ist nicht störend. Es gibt Berge von Fußnoten, einige nur Quellennachweise, aber viele enthalten auch interessante Zusatzinformationen, ich möchte also jedem Leser ans Herz legen, da nicht einfach drüberwegzugehen. Auch ist das Buch sehr unaufgeregt und ruhig, eben vernünftig im Tonfall. Keine Verurteilung, man muss Dinge im Kontext der Zeit sehen.
Besonders spaßig fand ich, dass Mythen wie der Rhein und der enge Bezug zu Wäldern und der Natur eine offenbar sehr deutsche Eigenart hervorgebracht haben: Wir stellen unsere Denkmäler nicht in unsere Hauptstadt, so wie alle anderen Nationen, sondern auf malerische Bergeshöhen oder ähnliche Plätze. Das gilt für die Wacht am Rhein genauso wie für die Porta Westfalica oder die unüberschaubare Masse von Bismarktürmen. Teil der schönen deutschen Landschaft eben.
Keine leichte Lektüre, aber unbedingt empfehlenswert. Historisch, psychologisch und kulturell.
Ein Mythos ist etwas, was eine hohe symbolische Bedeutung für eine bestimmte Gruppe hat. Es gibt Schöpfungsmythen, Gründungsmythen, Heldenmythen, Geschichtsmythen und viele andere mehr. Mythen sind wandelbar, interpretationsoffen und mehrdeutig. Sie sorgen für den Unterbau, für die Begeisterung, und sie sind eine Rechtfertigung dafür, dass es etwas ist, wie es ist, oder etwas getan wird, wie es getan wird. Und nicht zuletzt dienen sie der Abgrenzung. Darum kommt Karl der Große in diesem Buch nur am Rande vor: Sowohl Frankreich als auch Deutschland beanspruchen ihn für sich, also ist er kein Mythos der Deutschen. Nicht nur.
Herr Münkler hat sein Buch unterteilt, um die behandelten Mythen nochmals thematisch zusammenzufassen. Nationalmythen, Ein Kampf gegen Rom, Preußische Mythen, Burgen und Städte, und Politische Mythen nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit jedem einzelnen Mythos arbeitet er sich chronologisch vor, zeigt seine Grundlage, seine Entwicklung und seine Bedeutung für die jeweilige Zeit. Denn das kommt auch noch dazu: Im Gegensatz zu vielen unserer Nachbarn haben wir Deutschen keine jahrundertealte ungebrochene Tradition, auf die unser Land zurückblicken kann. Die aktuelle Berliner Republik ist gerade mal etwas über 30 Jahre alt, die Bonner Republik und die DDR haben es auf 40 Jahre gebracht, davor gab es 12 Jahre "Tausendjähriges Reich"... Vor 1871 gab es kein Deutschland in diesem Sinne. Wir haben also über die Zeit sehr viele verschiedene politische Systeme durchlaufen und jedes hat versucht, sich die wichtigsten Mythen zu eigen zu machen und sie zu benutzen. Denn ein Mythos ist auch etwas, was die Leute motiviert. Argumente sind gut, aber Argumente führen nicht zu Begeisterung. Damit lässt sich kein Krieg gewinnen. Oder auch nur eine Revolution.
Ich kannte jeden einzelnen der aufgeführten Mythen, auch wenn ich nicht jeden als Mythos bezeichnet hätte - auch, weil mir die Tragweite vor der Lektüre bei einigen (z.B. Luther, Königin Luise, Faust) nicht bewusst war. Das fällt vor allem bei dem Mythos der Gründung der BRD auf: Es gibt keinen. Die Bundesrepublik Deutschland hat keinen Gründungsmythos. Sie hat keine ideologische Berechtigung (im Gegensatz übrigens zur DDR), und keinen historischen Unterbau. Sie ist das, was nach dem Zweiten Weltkrieg halt aus den drei westlichen Besatzungszonen gemacht wurde. Ein Papierstaat. Was also sind die Mythen, die man mit ihr verbindet? Wirtschaftswunder und D-Mark. Die harte Währung, der stabile Rechtsstaat. Wohlstand. Oder, wie eine britische Doku es mal so schön nannte "the powerhouse of Europe". Deutschland ist der Motor Europas, sein wirtschaftliches Rückgrat, die Stimme der Vernunft. Deutschland hat keine Agenda außer seiner Verfassung. Und wenn ich ganz ehrlich bin, dann finde ich das nicht das Schlechteste - aber ich bin auch in der BRD großgeworden, und das bedingt den Einfluss dieses Identitätsmythos. Wir sind vernünftig. Wir sind friedlich. Und wir sind ein Vorreiter im Umweltschutz. Werte dieser Zeit.
Zu anderen Zeiten waren andere Mythen identitätsstiftend. Bekannte Mythen wie das Nibelungenlied, Barbarrossa oder der deutsche Rhein. Die Weimarer Klassik, preußische Tugenden und der Bombenhagel von Dresden. Nicht zu vergessen die "Germania" von Tacitus, die den Mythos des sittenreinen Barbaren, des edlen Wilden in den dunklen Wäldern, begründet hat. All das ist Teil von Deutschland, auch heute noch, auf die eine oder andere Weise. Und wenn es nur im Rahmen von Vergangenheitsbewältigung ist, denn darin sind wir Deutschen nicht nur Weltmeister sondern konkurrenlos. Die BRD ist das einzige Land, das als Nachfolger eines anderen politischen Systems ernsthaft Schuldarbeit und Wiedergutmachung betrieben hat. Andere Länder arbeiten nicht einmal ihre eigenen Fehler auf.
Herr Münkler schreibt einen anspruchsvollen Stil, so dass ich manchmal Sätze mehrfach lesen musste, um sie zu verstehen, aber nie so schwierig, dass ich ihm nicht folgen konnte (was sicher auch daran liegt, dass Deutsch meine Muttersprache ist, siehe "Albion"). Es ist kein unterhaltendes Buch, aber es ist ein spannendes Buch, das angenehm bei seinem jeweiligen Thema bleibt und sich nie in Randbemerkungen oder weiteren Gedanken verzettelt. Hin und wieder wiederholen sich Dinge, da Mythen logischerweise verknüpft sind, aber das trägt vor allem zur Orientierung bei und ist nicht störend. Es gibt Berge von Fußnoten, einige nur Quellennachweise, aber viele enthalten auch interessante Zusatzinformationen, ich möchte also jedem Leser ans Herz legen, da nicht einfach drüberwegzugehen. Auch ist das Buch sehr unaufgeregt und ruhig, eben vernünftig im Tonfall. Keine Verurteilung, man muss Dinge im Kontext der Zeit sehen.
Besonders spaßig fand ich, dass Mythen wie der Rhein und der enge Bezug zu Wäldern und der Natur eine offenbar sehr deutsche Eigenart hervorgebracht haben: Wir stellen unsere Denkmäler nicht in unsere Hauptstadt, so wie alle anderen Nationen, sondern auf malerische Bergeshöhen oder ähnliche Plätze. Das gilt für die Wacht am Rhein genauso wie für die Porta Westfalica oder die unüberschaubare Masse von Bismarktürmen. Teil der schönen deutschen Landschaft eben.
Keine leichte Lektüre, aber unbedingt empfehlenswert. Historisch, psychologisch und kulturell.