After

[blauerfalke]

von Dr. Bruce Greyson

Etwa 10 Prozent aller Menschen, die wiederbelebt werden, haben etwas, was man eine Nahtoderfahrung nennt. Die bekanntesten Berichte involvieren Tunnel mit hellem Licht an ihrem Ende, das Wiedersehen mit verstorbenen Angehörigen und Freunden, oder sogar das Zusammentreffen mit einer spirituellen Entität. Die meisten sprechen von einem Gefühl von großem Frieden, Liebe und Verbundenheit. Nur ein sehr kleiner Teil von Nahtoderfahrungen ist negativ.
In jedem Fall ist eine solche Erfahrung immer ein einschneidendes Erlebnis und führt nicht selten dazu, dass Menschen ihr ganzes Leben umkrempeln.

Dr. Greyson ist Mediziner. Arzt. Er ist Psychiater und Neurowissenschaftler, hat an verschiedenen Unis gelehrt und geforscht und in Kliniken gearbeitet, unter anderem in der Notfallpsychatrie. Also jemand vom Fach und ein Wissenschaftler. Er hat hunderte von Artikeln in Fachzeitschriften veröffentlicht, "After" ist sein erstes Buch für die "general public".

Er warnt direkt im Vorwort, dass sein Buch nicht die alles entscheidente Fragen beantworten kann, was Nahtoderfahrungen sind, warum sie passieren, warum sie wem passieren und was für eine Bedeutung sie haben. Es gibt keine Antworten. Wir haben sie (noch) nicht, aber das sollte niemanden davon abhalten, zu forschen, denn nur so erwerben wir weiteres Wissen. So funktioniert Wissenschaft nun einmal. Wer also etwas anderes will als den aktuellen Stand seriöser Wissenschaft zum Thema, sollte in diesem Moment das Buch zur Seite legen und vielleicht zu etwas greifen, was esoterischer ist.

Denn Dr. Greyson ist Wissenschaftler. Klassischer skeptischer Naturwissenschaftler. Fragen stellen, Antworten auswerten, Experimente machen, Daten sammeln, versuchen, diese Daten zu interpetieren. Diese Interpretation dann wieder in Frage stellen, denn Interpretationen sind immer subjektiv, daraus neue Fragen gewinnen, weiterforschen...
"After" stellt all diese über die Jahrzehnte gesammelten Daten vor, von den Fragestellungen bis hin zu den Theorien, die daraus entstanden sind. Das macht Dr. Greyson auf eine sympathische, lockere und gut verständliche Art, angereichert mit Fallbeispielen und persönlichen Anekdoten, aber nie reisserisch und nie belehrend. Er bleibt immer wissenschaftlich und scheut sich nie, eine Theorie weiter zu erforschen, auch wenn sie noch so exotisch und haarsträubend klingt. Das Buch ist eine gelungene Gradwanderung zwischen Beschreibungen sehr persönlicher und subjektiver Erfahrungen, die von fast allen als unmöglich in Worte zu fassen beschrieben werden, und moderner Forschung über das Gehirn mit diversen Scan- und Elektrodenmethoden. Es zeigt die Grenzen von beidem auf und die Schwierigkeiten, die daraus resultieren. Wie viel wir nicht wissen, das auch. Und wir wissen extrem wenig, gerade was die Funktionsweise des Gehirns angeht.

Das alles ist auf wissenschaftlicher Ebene sehr spannend. Auf philosophisch-spiritueller ist es ebenfalls sehr interessant, und auf psychologischer natürlich erstrecht. Auch auf menschlicher Ebene hat es viel zu bieten, bis hin zu essentiellen Grundfragen unseres Daseins und wie wir mit einander umgehen sollten. Das Buch ist eine Einladung, das Thema aus jedem nur erdenklichen Blickwinkel zu betrachten und eine Einladung, selbst weiter nachzudenken. Ein Buch über Neuanfänge, das auch. Ein Buch über Kraft. Ideal also, um es Silvester zu lesen.

Und es erinnert noch einmal daran, wie neu viele Erkenntnisse sind, die wir für selbstverständlich nehmen. Das Wort Nahtoderfahrung - englisch "near death experience" - stammt von 1975. Erst seitdem ist es ein eigenes Phänomen. Davor hielt man solche Erfahrungen wahlweise für Halluzinationen, Visionen, Geistererscheinungen oder schlicht für Geistesgestörtheit.

Aber das ist quasi das Einzige, von dem Dr. Greyson vollkommen sicher überzeugt ist: Menschen, die eine Nahtoderfahrung haben, sind nicht zwangsweise geisteskrank. Sie können es sein, aber es gibt keinen kausalen Zusammenhang, das haben die Statisken deutlich gezeigt.

Tolles Buch. Sehr lesenswert.