Apr. 7th, 2012

blauerfalke: (narnia)
Queen's Theatre, London

Zum ersten Mal gesehen habe ich "Les Misérables" Anfang der 90er in London, im Palace Theatre. Schon damals gab es eine besondere Tradition beim Anschlagen der Castliste: im Foyer hing eine große Tafel, auf der stand "appearing in this performance of Les Misérables:" und dann wurden darunter alle Darsteller eben dieser Vorstellung aufgeführt. Alphabetisch wohlgemerkt, ohne den geringsten Hinweis darauf, wer was spielte. "Les Misérables" ist eben eine Ensembleshow, in der jeder genauso wichtig ist.
Da wir in London waren, wurde dann kurz vor Beginn der Show durchgesagt, welche Rolle nicht von der Erstbesetzung gespielt wurde, und wer stattdessen spielte, und dann ging pünktlich das Licht aus. Egal, ob man saß oder nicht, da wurde nicht gewartet, und wer jemals im Palace im Balcony gesessen hat, der weiß, daß das durchaus ein Problem darstellen kann, sich da im Dunkeln zu bewegen.

So rigoros sind sie im Queen's nicht. Aber alles andere machen sie genauso - die Tafel im Foyer, die Durchsage. Da die Durchsage ein bißchen zu schnell ging, hatte ich mitbekommen, daß Enjolras eine Zweitbesetzung war. Marius war auch eine, und noch jemand Anderes, was sich aber nicht mehr rausfinden ließ. Höchstwahrscheinlich Feuilly und Jean Prouvaire, denn das sind die Rollen, die unser Enjolras und unser Marius normalerweise gespielt hätten, und die mußte ja nun auch wieder jemand anders spielen.

"Les Misérables" basiert auf dem gleichnamigen Roman von Victor Hugo und behandelt die Teile des 3000-Seiten-Werks, die sich mit Jean Valjean und seinem Leben nach der Entlassung nach 19 Jahren Haft befassen. Soll heißen, Valjean ist die Hauptrolle, dicht gefolgt von Javert, der ihm die ganze Zeit über auf den Fersen ist. In unserem Fall gab es Ramin Karimloo als Valjean und Hadley Fraser als Javert. Beide sahen auf ihren Programmheftbildern viel zu jung aus für die Rollen, aber da tat die Maske dann gute Dienste. Mr.Karimloo ist gerade recht bekannt dadurch, daß er in Lloyd Webbers "Das Phantom der Oper"-Sequel "Love Never Dies" das Phantom gesungen hat. Auf der Castaufnahme liefert er eine stimmlich äußerst beeindruckende Vorstellung, zumal die Partie des Phantoms in "Love Never Dies" neben dem erwarteten opernhaften Gesang auch noch ein donnerndes Rockstück vorsieht. Leute, die beides gleichermaßen gut singen können, sind sehr, sehr selten, und Mr.Karimloo gehört zu dieser raren Spezies. Es war also keine Überraschung, daß sein Valjean stimmlich über jeden Zweifel erhaben war. Sehr emotional gesungen, mit sehr viel Herzblut und ohne jedes Problem mit der Partie. Sein "Bring him home", wegen seiner Höhe wahrscheinlich das schwerste Lied für Valjean, war wunderschön. Spielerisch war er mir teilweise... nunja... zu jung. Nicht so weise und gütig, wie ich mir den alternden Valjean vorstelle. Sonst aber wirklich grandios, und auch in den wütenden Parts der Rolle fantastisch. Eben weil er loslassen kann und auch hart singen.

Gegen einen so fantastischen Valjean braucht es einen Javert, der die gleiche Klasse hat. "Les Misérables" verliert sehr stark, wenn entweder Valjean oder Javert gegen den anderen stark abfällt - aber hier braucht Hadley Fraser keinen Vergleich zu scheuen. Anfangs war ich skeptisch, aber spätestens ab dem Gesangsduell an Fantine's Sterbebett war das vorbei. Wahrscheinlich war Mr.Fraser mir einfach nicht groß und hager genug, einen anderen Grund kann ich mir da nicht mehr vorstellen. Er hat fantastisch gesungen und großartig gespielt. Javert ist einer meiner beiden Lieblingscharaktere, darum bin ich da besonders kritisch. Aber Mr.Fraser hat den der Pflicht und dem Gesetz dienenden Inspektor ebenso glaubhaft dargestellt wie sein Zerbrechen an der Tatsache, daß die Welt doch nicht so schwarz-weiß ist, wie er immer geglaubt hat. Ich war schon in Tränen aufgelöst, bevor er überhaupt den ersten Ton von "Javert's Suicide" gesungen hatte. Tolle Charakterinterpretation.

Mein zweiter Lieblingscharakter ist Enjolras. Scott Garnham war angemessen idealistisch und enthusiastisch und hatte eine schöne Stimme. Leider haben sie für diese Auffühung von "Les Misérables" die Charakterisierungen der Studenten entweder ganz anders übernommen oder die Cast darf machen, was sie will - von all den Eckpunkten, die Enjolras ausmachen, war quasi nichts mehr übrig. Weder seine Beziehung zu Marius stimmte, noch seine, wie ich finde, viel wichtigere Gegenüberstellung mit Grantaire war da. Im Gegenteil, Enjolras und Grantaire schienen sogar besonders gute Freunde zu sein, ohne jede Spannung durch Verachtung, unterschiedliche Einstellungen etc. dazwischen. Enjolras hat sogar den angebotenen Wein genommen. Da war also nur ein einziger Aspekt dabei, den ich sehen wollte, aber ich weiß wie gesagt nicht, ob das die Schuld der Regie ist, also kreide ich es vorsichtshalber mal nicht Mr.Garnham an. Er hat vermutlich mit dem bißchen, was sie Enjolras gelassen haben, getan, was er nur konnte.

Fra Fee als Marius spielte gut, sah nett aus, fiel aber stimmlich deutlich ab. Er klang heiser, vielleicht war er erkältet.
Alexia Khadime als Eponine hat noch immer die beeindruckende Stimme, die ich aus "Wicked" in Erinnerung habe, aber leider ist sie schwarz und klingt auch so. Bei "Wicked" stört mich das nicht, bei Stücken wie "Les Misérables" schon. Außerdem war sie in "A little fall of Rain" einfach zu stark, als daß ich ihr geglaubt hätte, daß sie gerade im Sterben liegt. Normalerweise breche ich bei dem Song auch schon beim ersten Ton in Tränen aus, aber in diesem Fall brauchte Ms.Khadime bis zur letzten Strophe, um das auslösen. Wahrscheinlich, weil erst da ihre Stimme sowas wie nachließ. Sonst singt sie die Eponine-Partie natürlich mühelos, gar keine Frage.
Fantine und die Théndariers waren auch ausgezeichnet, aber das sind Rollen, die ich immer für sehr einfach zu spielen halte. Im Gegensatz zu Cosette, die von Handlung, Text und Regie so wenig bekommt, daß auch die beste Besetzung aus der Rolle so gut wie nichts machen kann. Es bleibt nur, den Part so schön wie möglich zu singen, und das hat Lisa-Anne Wood in jedem Fall getan. Schöner weicher, glockenklarer Sopran.

"Les Misérables" ist eine sehr lange, sehr anstrengende Show mit ergreifender, emotionaler, eher klassischen Musik. Duster und mit nur kleinen Hoffnungslichtern. Aber sie spielt nicht umsonst im (laut Werbung am Theater) 27ten Jahr. Es lohnt sich immer wieder.

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